Skript zum Rundgang am 8. November 2018, von Daniela Tobias
Herzlich Willkommen zum Stadtrundgang zu den Tatorten des 9. November 1938. Ich bin Daniela Tobias vom Unterstützerkreis Stolpersteine in Solingen und möchte Sie heute durch die Solinger Innenstadt entlang der Orte führen, an denen Morgen und in der Folgenacht vor 80 Jahren religiöse Bauwerke, Geschäftsräume und Wohnungen der jüdischen Bevölkerung zerstört und geplündert wurden, wo Menschen verhaftet, gejagt, misshandelt und in einem Fall auch ermordet wurden – nicht spontan vom angeblich aufgebrachten deutschen Volk, sondern gezielt von den nationalsozialistischen Machthabern deutschlandweit organisiert. Es war der Auftakt zur vollständigen Vertreibung und Vernichtung der deutschen und europäischen Juden.
Mein Rundgang basiert insbesondere auf der Arbeit von Horst Sassin, der die Ereignisse bereits im Jahr 2000 für einen Band der Solinger Geschichtswerkstatt detailliert recherchiert und dabei zahlreiche Zeugenaussagen verarbeitet hat, sowie auf dem jetzt erschienenen Buch von Stefan Stracke über die Solinger Novemberpogrome, das auch nochmal die Täterseite besonders in den Blick nimmt. Die Dokumentation von Stefan Stracke ist als kostenloses e-book auf der Webseite des Stadtarchivs verfügbar.
Ein kurzer Einschub zur Ausgangssituation: Ende Oktober 1938 gab es eine Massenabschiebung polnischer Juden, die Polen aber nicht aufnehmen wollte, was dazu führte, dass Tausende von ihnen im Grenzgebiet ohne Unterkunft und Verpflegung gefangen waren. Als der in Paris lebende 17-jährige Herschel Grynspan erfuhr, dass seine Eltern unter den Deportierten waren, schoss er am 7. November in der deutschen Botschaft auf den Legationssekretär Ernst vom Rath. Er erlag am Abend des 9. November seinen Verletzungen. Das Attentat wurde als Vorwand genutzt, dem angeblichen „Volkszorn“ gegen das sogenannte „Weltjudentum“ freien Lauf zu lassen. In Wahrheit war es ein Ventil für die lange schon angriffsbereiten NS-Anhänger, die auch in Solingen sehnlichst darauf warteten, die judenfeindliche Ideologie des Nationalsozialismus endlich konsequent in die Tat umzusetzen.
So äußerte zum Beispiel der Solinger Ratsherr Karl Hesels am 4. Oktober 1938 in einer Ratssitzung den Wunsch, die Solinger Synagoge langsam niederzulegen. Bürgermeister Dr. Rudolf Brückmann erwiderte damals noch, dass das nicht opportun sei, solange Juden in Solingen lebten, aber das würde sich bald von selber erledigen.
Wir beginnen unseren Rundgang am jüdischen Friedhof, dem letzten sichtbaren Zeichen der ehemaligen jüdischen Gemeinde Solingens. Erstmals erwähnt 1718, der älteste erhaltene Grabstein von 1820, die letzte Beerdigung fand am 7. April 1941 statt. Die Schotterstreifen hier markieren den Standort der Friedhofskapelle, die 1913 aus Mitteln der Gustav-Coppel-Stiftung errichtet wurde. Die Grabanlage der Industriellen-Familie Coppel liegt dort drüben. Der Solinger Ehrenbürger Gustav Coppel war nicht nur in der Synagogengemeinde aktiv, sondern auch in der Kommunalpolitik und sozial außerordentlich engagiert.
Die Friedhofskapelle markiert den vorläufigen Endpunkt der Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen im Rahmen der Novemberpogrome. In der Nacht vom 9. auf den 10. November hatte man zunächst die Inneneinrichtung der Kapelle verbrannt, das Gebäude aber stehen lassen. Am Abend des 10. November verabredete sich deswegen ein weiterer Trupp SA-Leute, insbesondere der SA-Pioniersturm, in einer nahegelegenen Gaststätte, um das Zerstörungswerk zu vollenden. Die Polizei sperrte das Gelände währenddessen gegen „Schaulustige“ ab. Der Leiter des Pioniersturms Ernst Gittelbauer versuchte zweimal vergeblich das Dach zu sprengen. SA-Mann Werner Ostermann kletterte schließlich auf das Gebäude und entzündete das Dach mit Benzin.
Am 22. Oktober 1948 wurden die beiden wegen Schändung des Friedhofs zu anderthalb bzw. einem Jahr Zuchthaus verurteilt, drei weitere Tatverdächtige freigesprochen. Das Gericht befand das Berufen der Angeklagten auf „höheren Befehl“ für unglaubwürdig. Vielmehr unterstellte es „eine innere Bereitschaft zu dem Zerstörungswerk“, was besonders verwerflich gewesen sei, da es sich um eine Ruhestätte der Toten handelte.
Bauzeichnung der Friedhofskapelle und Luftaufnahme von 1926. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Im hinteren Teil des Friedhofs finden wir die Gräber von zwei Opfern der Pogromnacht. Der eine ist Rechtsanwalt Willi Hirsch aus Opladen, der sich am 23. November 1938 das Leben nahm. Da der jüdische Friedhof in Opladen stark zerstört worden war, konnte er dort wohl nicht mehr beerdigt werden und fand hier seine letzte Ruhe. Der andere ist Max Leven, ein kommunistischer Redakteur, der in der Nacht auf den 10. November vor den Augen seiner Familie erschossen wurde. Näheres hören wir gleich am Tatort. Im Beerdigungsregister der jüdischen Gemeinde findet sich der Eintrag: „Er starb eines gewaltsamen Todes in der Aktionsnacht. Sein Leben war ein Irrgang. Die Not führte ihn zu seiner Gemeinschaft zurück.“ Soll heißen: er war nicht religiös und dazu noch Kommunist, also ein Ausdruck des Mißfallens, den man durchaus als sarkastisch interpretieren kann. Der Grabstein wurde 1991 auf Initiative der Alexander-Coppel-Gesamtschule (damals noch Gesamtschule Solingen) von der Stadt Solingen errichtet. Die Schule hatte 1988 eine Patenschaft über den Friedhof übernommen.
Wir springen jetzt in der Chronologie der Ereignisse etwas hin und her. Hier auf diesem Eckgrundstück stand das frühere Solinger Rathaus, das zur Zeit der NS-Herrschaft das Stadthaus war. Hier sammelten sich die in Alarmbereitschaft versetzten SA-Mitglieder am späten Abend des 9. November, nachdem Goebbels indirekt die Zerstörung jüdischer Einrichtungen als Vergeltung angewiesen hatte.
Ebenso wie Goebbels seine Verantwortung auf den spontanen „Volkszorn“ schob und keine direkten Befehle zu erteilen versuchte, mühte sich in Solingen der SA-Oberführer Heinrich Krahne, die Organisation der Pogrome nicht beim Namen zu nennen. So wies er laut verschiedener Zeugenaussagen einzelne Gruppen von 2-3 Männern an, bei diesen und jenen Juden „die Möbel zurechtzurücken“. Er besaß offenbar eine Liste mit Adressen, an die er sich 1952 im Prozess gegen ihn nicht mehr erinnern wollte. Auch habe er weder konkrete Anweisungen von Kreisleiter Peter Berns erhalten, die Synagoge sowie jüdische Geschäfte und Wohnungen zu zerstören, noch selber Einsatzgruppen losgeschickt. Gedeckt wurde er vom damaligen Bürgermeister Rudolf Brückmann, der ihm vermutlich die Adressliste zur Verfügung gestellt hatte. Zeugen wie Wilhelm Tönges und Artur Bolthausen, die an der Zerstörung der Synagoge und der Ermordung Max Levens beteiligt gewesen waren, hatten Krahne zwar im Vorfeld des Prozesses schwer belastet, widerriefen vor Gericht aber ihre Aussagen und behaupteten sogar, er habe versucht, die Ausschreitungen zu verhindern. Gemeinsam wurde nun der im Krieg gefallene SA-Obersturmbannführer Alex Katerndahl als Hauptverantwortlicher für die Brandstiftung an der Synagoge beschuldigt. Außerdem wollte Krahne sich an auswärtige SA-Verbände erinnern, über die er keine Kontrolle gehabt hätte. Krahne wurde tatsächlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Luftaufnahme des Solinger Stadthauses von 1926. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Im Laufe des 10. November 1938 wurden laut einem Bericht des Solinger Tageblatts 32 männliche Juden in Schutzhaft genommen. Namentlich bekannt sind 20 von ihnen, außerdem Margarethe Österreicher, Betty Reis und die 7-jährige Bella Tabak. Sie wurden hier im Keller des Stadthauses festgehalten. Betty Reis, das Hausmädchen der Familie Tabak, war zwei Tage lang schwersten Misshandlungen ausgesetzt und konnte schließlich durch Intervention der Familie Bremshey, ihrem früheren Arbeitgeber, befreit werden. Sie zog zurück zu ihrern Eltern nach Wassenberg am Niederrhein, wurde später von dort deportiert und kam im Winter 1944/45 im KZ Bergen-Belsen ums Leben.
Während einige der Männer, unter ihnen Emil Kronenberg, Alexander Coppel und Dr. Eduard Schott nach wenigen Tagen wieder entlassen wurden, verbrachte man mindestens elf Solinger eine Woche später ins KZ Dachau bei München. Ziel der Aktion war, die Männer so weit zu quälen, zu erniedrigen und unter Druck zu setzen, dass sie und ihre Familien schnellstmöglich aus Deutschland auswanderten. Natürlich nicht, ohne vorher einen Großteil ihres verbliebenen Vermögens abzuschöpfen, sowie Immobilien und Firmen zu Schleuderpreisen an verdiente Parteigenossen zu überführen.
Einträge von Kurt Schubach (29686), Sally Tabak (29687), Hugo Sommer (29702), Albert Tobias (29703), Hugo Lichtenstein (29710), Martin Goldschmidt (29711) und Karl Wallach (29712) im Zugangsbuch II des Lagers Dachau vom 17. November 1938, S. 11, Quelle: fold3.com / The National Archives
Martin Goldschmidt war der erste, der bereits am 28. November 1938 aus Dachau wieder entlassen wurde. Die Ohligser Stahlwarenfabrik seiner Ehefrau verkaufte das Paar im Dezember und floh Anfang Januar 1939 nach England. Die meisten seiner Mithäftlinge kamen im Laufe des Dezembers wieder frei. Gustav Joseph brachte sich in der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 1939 in Dachau um. Als letzter wurde Albert Tobias am 23. Februar 1939 entlassen, nachdem sich seine nicht-jüdische Ehefrau von ihm scheiden lassen und das gemeinsame Bekleidungsgeschäft in Wald übernommen hatte. Seine Entlassung zog sich unter anderem deswegen hin, weil sie sich weigerte die Rückreisefahrkarte zu bezahlen.
Wir befinden uns am ehemaligen Standort des „Bayerischen Hofs“, einer großen Gaststätte mit Festsaal. Hier traf sich am Abend des 9. November 1938 die Spitzen der Partei und der angeschlossenen Organisationen. Vorher hatte man in der Adolf-Hitler-Halle (am Platz des heutigen Theaters) an einem Festkonzert teilgenommen, das in Erinnerung an die „Märtyrer“ des gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923 mit großem Pathos zelebriert wurde. Kreisleiter Peter Berns beschwor in seiner Rede sich „einzureihen, in den Kreis der Opferbereiten, des Geistes der Toten von 1923 eingedenk zu sein und damit ihren Beitrag zur Ewigkeit des deutschen Volkes und seiner Bewegung zu liefern.“ Das Solinger Tageblatt berichtete am Folgetag von einer „stimmungsvollen Feier völkischer Gläubigkeit, welche in dem Chor `Heilig Vaterland´ ihren Höhepunkt erreichte“.
Die Gaststätte Bayerischer Hof am Mühlenplatz. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Gegen 22 Uhr verteilten sich die Teilnehmer auf die umliegenden Gaststätten. Die hochrangigsten Mitglieder der NS-Bewegung trafen sich hier im Bayerischen Hof, wobei es sich um eine Pflichtveranstaltung handelte. Kreisleiter Peter Berns war nach der Feier zu seinem Dienstsitz in Mettmann zurückgefahren. Gegen 23 Uhr rief Berns von dort im Bayerischen Hof an und verlangte nach SA-Oberführer Heinrich Krahne. Er informierte ihn über den Tod Ernst vom Raths in Paris. Wie bereits eben erwähnt, sprach Berns offenbar auch davon, dass „in dieser Nacht die Synagogen in Flammen aufgehen und jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert werden sollten, doch solle kein Personenschaden entstehen“. Krahne gab dies laut Zeugenaussagen an die versammelten „Amtsleiter der NSDAP, die Führer der NS-Formationen und […] Behördenleiter weiter.“ Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Es spricht einiges dafür, dass sich damit die Männer teilweise auch ohne konkrete Anweisungen ermächtigt fühlten, nach eigenem Gutdünken zur Tat zu schreiten. Nach den ersten Bieren und noch aufgeputscht von den Reden der Gedenkveranstaltung, gab es kaum eine Hemmschwelle mehr.
Links: Kreisleiter Peter Berns, rechts: SA-Obersturmbannführer Alex Katerndahl und SA-Oberführer Heinrich Krahne in der Rheinischen Landeszeitung vom 10. Januar 1938. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Wir stehen hier in etwa an der Stelle, wo sich das ehemalige Foto-Atelier von Wilhelm Güldenring befand. Er war mit der Jüdin Else Carsch verheiratet. Obwohl er selber evangelisch war, zerstörte man sein Schaufenster mit wertvollen Kameras und einer Spielzeugeisenbahn.
Gegen SA-Mann Hermann Bussmann, der nach dem Krieg wegen der Brandstiftung an der Synagoge angeklagt wurde, sagte die Zeugin Hertha Vois zunächst aus: „Es ist mir noch in sehr guter Erinnerung, dass Bussmann bei der Judenaktion im November 1938 eine sehr große Rolle gespielt hat. An dem fraglichen Tage, wo die Fenster der jüdischen Geschäfte eingeschlagen wurden, habe ich Bussmann am Kaufhof auf der früheren Adolf Hitler Str. vor dem Geschäft Güldenring stehen sehen. Die Fenster des G. waren eingeschlagen und die darin befindliche Ware hatte man geplündert. Auf meine Frage, was er hier suche, erklärte er mir, dass ist auch ein Jude. Ich verneinte dieses, worauf er mir sagte, dann hätte er sich einen anderen Namen zulegen sollen, dieser Name sei typisch jüdisch.“ Im Prozess widerrief die Zeugin, deren Brüder zusammen mit Bussmann in der SA waren, ihre Aussage und Bussmann wurde freigesprochen.
Weitere ehemals jüdische Geschäfte entlang der Hauptstraße waren schon vor längerer Zeit „arisiert“ worden und blieben dementsprechend in der Nacht unbehelligt. Das bekannteste Beispiel dürften die Kaufhäuser Alsberg und Tietz gewesen sein.
Die Johannisstraße, wo die Familie Tabak seit Juni 1938 wohnte, sieht heute erheblich anders aus. Sally Tabak, 1900 in Warschau geboren, und seine Frau Rosa betrieben ein Möbelgeschäft an der Tivolistraße, wo wir gleich noch vorbeigehen werden. Sie hatten eine Tochter namens Bella, die 1931 in Solingen zur Welt kam. Außerdem wohnte das 17-jährige Hausmädchen Betty Reis aus Wassenberg bei ihnen. Hier aus der Hausnummer 2 soll Sally Tabak „von einer Horde aus seiner Wohnung […] geschleppt worden sein, misshandelt und über die Wälle durch die Stadt getrieben worden sein“. Wie wir eben schon gehört haben, wurde nicht nur Sally anschließend verhaftet, sondern auch seine Tochter eine Nacht im Gefängnis festgehalten und Betty Reis zwei Tage lang schwer misshandelt. Sally Tabak und seine Familie flohen nach seiner Rückkehr aus Dachau über Belgien, nach Frankreich und in die Schweiz, von wo aus sie 1947 in die USA auswanderten.
Links: Das Möbelgeschäft Tabak an der Tivolistraße, rechts: Sally Tabak nach seiner Auswanderung in die USA. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Hier am Ufergarten sieht es heute auch erheblich anders aus. Dort wo die Hauptstelle der Sparkasse steht, war eine kleine Grünanlage und kurz hinter den ersten Häusern zweigte die Tivolistraße rechts ab. An der Einmündung lagen sich das Möbelgeschäft der Familie Tabak und das Textilgeschäft Giesenow gegenüber. In beiden Gebäuden ließen die NS-Schergen keinen Stein auf dem anderen. Schaufensterscheiben wurden zerschlagen, Waren aus den Regalen gerissen und zerstört, die Inneneinrichtung zertrümmert. Größten Wert legte man anschließend auf die Feststellung, dass angeblich nichts geplündert worden sei, und sich die Juden deswegen nicht zu beschweren hätten.
Über die als spontan bezeichneten Demonstrationen berichtete die Rheinische Landeszeitung am 11. November: „Die Solinger Volksgenossen zogen in den späten Abendstunden und in der Nacht zum Donnerstag in großen Scharen durch die Straßen, und es ist nur der außerordentlichen Disziplin der Bevölkerung zu verdanken, daß die Rassegenossen des feigen Mörders vor Schaden an Leib und Seele bewahrt blieben. Das Verbrechen der Judenclique war jedoch zu unmenschlich, daß es bei den Sprechchören oder Propagandazügen hätte bleiben können. Die jüdischen Geschäfte und Betriebe, die sich – ein Zeichen für die Frechheit des „auserwählten Volkes“ und den Langmut seiner deutschen Gastgeber – auch im sechsten Jahre des neuen Deutschland noch in den Straßen Solingens, Ohligs‘ und Walds breitmachen, fielen der berechtigten Wut des Volkes anheim.“
Links: Georg und Jenny Giesenow, rechts: ihr Geschäft am Ufergarten. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Das Ehepaar Jenny und Georg Giesenow wurde in dieser Nacht auch in seiner Wohnung an der Wupperstraße überfallen. Mitarbeiterin Alice Napp erinnerte sich, dass sie ihren Chef am nächsten Morgen angesichts des völlig verwüsteten Geschäfts verängstigt fragte, ob sie denn nun weiter für ihn arbeiten könne. Georg Giesenow schickte sie daraufhin zum Büro der Arbeitsfront, wo man die junge Frau anwies beim Aufräumen zu helfen und sich dann eine neue Stelle zu suchen.
Eine legale Auswanderung war dem Ehepaar Giesenow nach der Liquidierung des Geschäfts nicht mehr möglich. Die beiden wurden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Georg Giesenow starb dort am 19. April 1943 im Alter von 72 Jahren, seine Frau Jenny am 13. Mai desselben Jahres im Alter von 69 Jahren.
Wir sehen hier fünf Stolpersteine für die Familie Leven. Die frühere Hohe Gasse wurde 1979 nach Max Leven benannt. Der ehemalige Kulturredakteur der unter den Nazis verbotenen „Bergischen Arbeiterstimme“ lebte mit seiner Frau Emmi und den Kindern Heinz, Hannah und Anita in diesem Gebäude, in dem sich auch die Genossenschaftsdruckerei befunden hatte. Als jüdischer Kommunist stellte Max Leven für die Nationalsozialisten ein besonderes Feindbild dar. Schon 1933 und 1936 war er in die Fänge der Gestapo geraten.
In den frühen Morgenstunden des 10. November stellten Artur Bolthausen, Wilhelm Tönges, Ernst Baumann und Franz Eickhorn an der brennenden Synagoge fest, dass ihr Zutun bei der Zerstörung des Gotteshauses nicht mehr erforderlich war. Unterwegs Richtung Hohe Gasse schloss sich den Männern Armin Ritter an – ein „Alter Kämpfer“. So nannte man Parteimitglieder, die bereits vor der Machtergreifung in die NSDAP eingetreten waren. Zu fünft drangen sie in die Wohnung der Levens ein, die gegen 1 Uhr schlafend im Bett lagen. Sie zerstörten Möbel, Geschirr und Gemälde und demütigten das Ehepaar, indem sie ihnen als Vertreter der „jüdischen Rasse“ vorwarfen für den Tod vom Raths verantwortlich zu sein. Artur Bolthausen beschrieb später, wie aufgeputscht sie noch von der Gedenkfeier in der Adolf-Hitler-Halle waren.
Armin Ritter wollte Max Leven niederknien lassen, was ihm wegen seiner Gehbehinderung kaum möglich war. Im Hinausgehen schoss er zweimal auf den wehrlosen Mann und traf ihn tödlich am Kopf. Die Männer ließen die völlig verstörte Ehefrau allein mit ihren Töchtern zurück. Armin Ritter wurde zwar am nächsten Tag in einer Besprechung scharf gerügt, behauptete aber angegriffen worden zu sein und wurde nicht weiter belangt. „An und für sich war ich an den Juden wenig interessiert, insbesondere hatte ich nichts gegen Leven als Juden, sondern sah in ihm nur den politischen Gegner“, sagte der SA-Mann später lapidar aus.
Links: Max Leven mit Ehefrau Emmi und den Kindern Heinz, Hanna und Anita sowie einem unbekannten Mädchen. Quelle: Stadtarchiv Solingen. Rechts: Armin Ritter, Quelle: Landesarchiv NRW, Gerichte Rep. 240/151
Im Juli 1949 wurde Ritter, der nach dem Krieg zunächst untergetaucht war, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Totschlag zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Richter berücksichtigte eine „Affektinkontinenz“ des Angeklagten, die angeblich von einem Schädelbruch herrührte, den er sich 1930 bei einer Auseinandersetzung mit Kommunisten zugezogen hatte. Die anderen Mittäter wurden zu zwei bzw. anderthalb Jahren Haft verurteilt.
Emmi, Hannah und Anita Leven wurden deportiert und ermordet. Heinz Leven wanderte 1935 nach Frankreich aus. Sein Schicksal ist ungeklärt.
Am Birkenweiher wurden die Wohnungen der Witwe Laura Joseph und der Familie von Prof. Dr. Eduard Schott verwüstet. Der geschasste Chefarzt der Solinger Krankenanstalten, der schon früh zum evangelischen Glauben übergetreten war, wohnte im Haus Nr. 43 und führte dort noch eine kleine Privatpraxis. Die Familie erlebte in der Nacht zum 10. November wie ein enthemmter SA-Mob das Mobiliar zerschlug, ein Cello aus dem Fenster warf, den Flügel zerstörte, Bilder von Emil Nolde, Paul Klee und Albrecht Dürer zerschnitt und das Porzellan zerschlug.
Birkenweiher, rechts Haus Nr. 43. Quelle: Stadtarchiv Solingen
Der Sohn Francis Schott berichtete am 9. November 1988 in der New York Times über die verstörenden Ereignisse in der Pogromnacht. Er beschrieb die Angst um das Leben seiner Mutter, die sich schützend in den Türrahmen ihres Schlafzimmers gestellt hatte. „Die geordnete Welt, in der nur die Polizei dich holen kann und die nur dann kommt, wenn du ein Verbrecher bist – diese Welt gibt es nicht mehr. Indem eine Regierung Öl in das Feuer der Vorurteile gießt, kann sie daraus Hass machen und eine Bevölkerung in Schlägertrupps verwandeln. So schmerzlich es auch ist, wir müssen uns immer daran erinnern“, schrieb er zum 50. Jahrestag der Pogrome.
Eduard Schott emigrierte 1939 in die USA, die älteste Tochter konnte Deutschland 1940 verlassen. Seine Frau, die sich 1944 pro forma scheiden ließ, und die drei jüngeren Kinder mussten zunächst bleiben. Sie folgten ihm nach dem Krieg nach Amerika. Letztes Jahr nahmen drei Enkel an der Enthüllung einer Gedenktafel im städtischen Klinikum teil und vor zwei Wochen wurde hier ein Stolperstein verlegt. Beides wurde von der Solinger Regionalgruppe der IPPNW – Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs initiiert.
An der Stelle, an der 1943/44 dieser massive Hochbunker errichtet wurde, stand bis Ende 1938 die Solinger Synagoge. Der neuromanische Kuppelbau der jüdischen Gemeinde war hier am 8. März 1872 mit großer öffentlicher Resonanz eingeweiht worden.
Für die SA-Meute, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November ausschwärmte, stellte die Synagoge das erste Ziel dar. Gegen Mitternacht waren bereits mehrere Dutzend Männer vor Ort und hatten sich Zutritt zu dem Gotteshaus verschafft, indem sie über die Mauer kletterten und Fenster einschlugen. SA-Obersturmbannführer Alex Katerndahl war möglicherweise mit seinen Leuten schon vor dem Telefonat zwischen Kreisleiters Berns und SA-Oberführer Krahne zur Malteserstraße aufgebrochen, so dass viele der Herbeigeeilten nur noch als Zuschauer beobachteten, wie das Gebäude in Flammen aufging. Die Feuerwehr unternahm keine Versuche den Brand zu löschen, sondern half laut einem Zeugen noch, die Fenster im Turm einzuschlagen, damit sich das Feuer besser ausbreiten konnte.
Die Rheinische Landeszeitung, ein Partei-Organ, schrieb am 11. November 1938: „In all den Jahren nach der Machtübernahme hatte es immer wieder die deutschen Volksgenossen herausgefordert, daß von dem hohen Dach dieses jüdischen Gebetshauses provozierend der Davidstern, das Symbol des jüdischen Hasses, über Solingen hinwegstarrte. Die Synagoge wurde im Laufe der Nacht von der Volksmenge gestürmt. […] Der Davidstern leuchtet nicht mehr über Solingen.“
Die Synagoge brannte bis auf die Grundmauern nieder und wurde anschließend abgerissen. Der jüdischen Gemeinde „kaufte“ man das Grundstück zum Preis der Abbruchkosten ab.
Straßenansicht und Luftbild der Solinger Synagoge. Quelle: Stadtarchiv Solingen
1946 wurden erste Anzeigen gegen die mutmaßlichen Brandstifter gestellt. In den Vernehmungen belasteten sich die Verdächtigen noch gegenseitig. Vor allem der ehemalige Kreispropagandaleiter Artur Bolthausen fiel durch seinen immer noch unverhohlenen Antisemitismus auf. Während des Prozesses stellten die Angeklagten den an der Front gefallenen Alex Katerndahl als Hauptverantvortlichen hin, sich selbst eher als unbeteiligte Schaulustige. Im Juli 1949 wurde Bürgermeister Brückmann freigesprochen, Artur Bolthausen bekam zwei Jahre Gefängnis, andere wurden ebenfalls zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie sich ohne Anweisung und aus eigener Überzeugung an der Brandstiftung der Synagoge beteiligen wollten, auch wenn ihnen andere bereits zuvor gekommen waren.
Wir haben heute Abend von Ereignissen gehört, an denen deutlich wird, wie Sprache in Taten mündet und Menschen so weit aufstacheln kann, dass sie Empathie und Rechtssinn komplett ausblenden. Wir müssen solchen Worten jederzeit entschieden entgegentreten - bevor sie zu Taten werden! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.