Der Stadtführer und langjährige Koordinator des Unterstützerkreises Stolpersteine für Solingen, Hans-Günter Koch, bietet auch 2022 wieder Stolpersteinführungen in Ohligs und in der Innenstadt an.
Vor über 75 Jahren wurde Solingen vom Faschismus befreit. Die Verbrechen der Nazis wurden offenbar. Auch viele Solinger*innen waren von Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung betroffen. Auf dem Rundgang werden einige Stolpersteine besucht und über das Schicksal der Menschen sowie deren Lebensumstände und die Zusammenhänge von Verfolgung und Widerstand in Solingen in der Zeit von 1933 bis 1945 berichtet.
Der Rundgang dient nicht nur der Erinnerung. Er soll Anregungen geben, sich mit der jetzigen Rechtsentwicklung auseinander zu setzen.
Termine
Samstag, 30. April 2022, Treffpunkt 14 Uhr Stadtmitte Neumarkt vor C & A
Samstag, 20. August 2022, Treffpunkt 14 Uhr Ohligs vor dem Hauptbahnhof an der Uhr
Dauer ca. 1,5 bis 2 Stunden, Teilnahmegebühr 5 €
Sollte es noch Corona Regeln geben, ist eine vorherige Anmeldung erforderlich.
Die ursprünglich für 2020 geplante Verlegung von acht Stolpersteinen für die Familie Feist musste leider mehrfach aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden, da eine Anreise der Nachfahren aus dem Ausland nicht möglich war. Nun hat sich mit dem 150. Jahrestag der Einweihung der Solinger Synagoge ein feierlicher Anlass ergeben. Die Angehörigen werden zum Festakt am 12. März 2022 aus Deutschland, Portugal und den USA kommen.
Am Sonntag, 13. März 2022 um 10 Uhr werden zunächst vier Steine für Siegfried, Emilie, Paul und Hilde Feist an der Katternberger Straße 37 verlegt, anschließend für Alfred, Rosa, Heinz und Maria Matilda Feist an der Kölner Straße 18.
Die Brüder Siegfried, Alfred und Julius Feist führten die in den 1870er Jahren gegründete Stahlwarenfirma ihres Vaters Joseph Feist am Dickenbusch fort. Vom Handel mit Klempnerbedarf hatte sich das Geschäftsfeld mit der Zeit auf die Produktion und den Handel von Schneidwaren verlagert. Die Firma exportierte nicht nur in europäische Länder, sondern auch nach Nord- und Südamerika. Die Familie gehörte dem liberalen Solinger Bürgertum an, engagierte sich in Vereinen und Institutionen.
Alfred Feist war es wichtig, dass sein Sohn Heinz nicht nur kaufmännisches Wissen erwarb, sondern auch das Handwerk bei einem Reider lernte. Wie sein Cousin Paul reiste Heinz Feist nach der Ausbildung als Vertreter für das Familienunternehmen durch die ganze Welt.
Familienfoto der Feists. Quelle: Stadtarchiv Solingen, RS 20693
Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten konnte sich die Firma Joseph Feist im Exporthandel zwar weitgehend behaupten, da sie von Boykottmaßnahmen nur wenig betroffen war. Die Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben traf die Familienmitglieder in Solingen jedoch wie alle anderen Jüdinnen und Juden. Selbst die portugiesische Ehefrau von Heinz Feist konnte, obwohl sie Katholikin war, nicht mehr ins Kino oder ins Schwimmbad gehen.
1937 zogen Heinz und Maria Matilda Feist nach Portugal. Heinz‘ Eltern Alfred und Rosel Feist fassten erst nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 den Entschluss, Deutschland zu verlassen. Ihre Wohnung war überfallen und verwüstet worden, Alfred Feist saß drei Tage im Polizeigefängnis. Die Firma verkauften sie an ehemalige Mitarbeiter, in der Hoffnung, später wieder in das Geschäft einsteigen zu können.
Alfred und Rosel Feist hatten über ihre Schwiegertochter ein Visum für Portugal erhalten. Fast ihr gesamtes Vermögen wurde vor der Ausreise vom Deutschen Reich über die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ eingezogen. Die Familie von Siegfried Feist blieb zunächst in Solingen und regelte die Auflösung der Firma und den Verkauf des Grundbesitzes. Siegfried Feist war seit 1919 Vorsitzender der Synagogengemeinde gewesen und blieb auch nach der zwangsweisen Degradierung der Gemeinde zu einem Verein im Vorstand. 1939 zog er vom Familiensitz an der Kölner Straße zur Katternberger Straße.
Anfang 1940 flohen Siegfried und Emilie Feist nach Antwerpen. Eigentlich wollten sie von dort weiter in die USA zu ihrem Sohn Paul und Schwiegertochter Hilde emigirieren, die bereits vor der Pogromnacht Deutschland verlassen hatten. Doch die Gestapo leitete ein Verfahren zur Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft ein, und so fehlten die nötigen Reisepapiere. Siegfried Feist starb am 30. Dezember 1943 in Antwerpen. Seine Frau überlebte und konnte nach dem Krieg zu ihrem Sohn in die USA auswandern.
Heinz Feist gründete in Portugal einen Spielwarengroßhandel. Sein ältester Sohn Pedro saß als Abgeordneter im portugiesischen Parlament und kandidierte für das Bürgermeisteramt von Lissabon.
Quellen: – Solinger Geschichtswerkstatt – Manfred Krause (Hrsg.): „…dass ich die Stätte des Glückes vor meinem Tode verlassen müsste“ – Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Solingen, Leverkusen 2000, S. 336 ff – Kulke, Willi: „Wir waren eine angesehene Familie“, Die Geschichte der Familie Feist in Solingen von 1847-1994, Solingen 1996
Graphicstory zu Dr. Eduard Schott. Quelle: Greta von Richthofen/WDR unter Creative Commons Lizenz CC BY_NC-ND 4.0 DE
Am 21. Januar 2022 ging die NRW-weite Stolperstein-App des WDR online. Mehr als 15.000 Steine sind in der Datenbank erfasst. Der Check der Basisdaten für die Solinger Stolpersteine wurde im vergangenen Jahr vom Unterstützerkreis Stolpersteine für Solingen übernommen. Dabei wurden von uns auch die Links zu den recherchierten Biographien des Stadtarchivs und des Max-Leven-Zentrums eingepflegt. Diese Links sind derzeit noch nicht zu allen Steinen verfügbar, ebenso fehlen noch Fotos.
Der Schwerpunkt der WDR-App und Webseite liegt auf eigens produzierten Inhalten wie Audio- und Graphicstories, die größtenteils auf den Recherchen von Armin Schulte und anderen Solinger Forscher:innen basieren, die 2020 in dem Band „Stolpersteine in Solingen. Schicksale 1933-1945“ vom Stadtarchiv veröffentlicht wurden. So gibt es für Solingen vier Audiostories zu Harry Bell Mills, Dr. Emil Kronenberg, Ilse Shindel und Albert Müller und vier Graphicstories zu Paul Happe, Dr. Eduard Schott, Dr. Erna Rüppel und Dr. Fritz Wieter. Darüber hinaus hat der WDR vier Stolpersteintouren in Ohligs und in der Innenstadt zusammengestellt, die jeweils unterschiedliche Verfolgungsschicksale abbilden und verbinden. Für Lehrer:innen gibt es pädagogisches Begleitmaterial für den Unterricht. Über die App haben Nutzer:innen die Möglichkeit mit Hilfe von Augmented Reality neben den Stolpersteinen virtuelle Kerzen abzustellen.
Die Inhalte und Funktionen der Webseite und der App will der WDR weiter ausbauen. Das Projekt wurde zusammen mit der Stiftung von Gunter Demnig und in Kooperation mit mehr als 200 nordrhein-westfälischen Kommunen, Initiativen und Aktionsbündnissen entwickelt.
„Die Kinder unserer 4. Klassen hatten viel Spaß beim Putzen der Steine und haben großes Interesse gezeigt, mehr über die Menschen hinter den Steinen zu erfahren“, berichtete Lehrer Björn Beu von der Grundschule Schützenstraße, die seit neustem im Team der Stolpersteinputzpaten dabei ist und erstmals am 9. November im Gedenken an die Pogromnacht von 1938 die Messingplatten mit den Namen von Henriette Marx, Karl Mebus und Dr. Fritz Wieter an der Krahenhöhe reinigte.
Fotos: Jana Achenbach und Björn Beu
Auch die Alexander-Coppel-Gesamtschule gehörte zu den Schulen, die sich, unterstützt von der BV Mitte, am diesjährigen Putzen und Kerzenaufstellen beteiligten. Simone Sassin und die AG Jüdischer Friedhof kümmerten sich dabei nicht nur um Stolpersteine des Ehepaars Jenny und Georg Giesenow, von Hedwig Löb, Ernst Müller, Paul Schürmann und Dr. Alexander Coppel, sondern auch um das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Jenischen an der Korkenziehertrasse.
Fotos: Simone Sassin
Auch aus Ohligs und Wald erreichten uns Bilder von Cerstin Tschirner, die ein Licht für Otto Winkels aufstellte und von Hans-Günter Koch und den Naturfreunden, die an den Steinen von Hans Lichtenthäler, Ewald Peiniger, Franz Wenders und Willi Haas Kerzen anzündeten. Uli Preuss stellte in Mitte ein Licht für Albert Müller auf.
Schüler:innen des Gymnasiums Schwertstraße putzten Stolpersteine in der Innenstadt, wie den von Gerd Adolf Friedberger, einem ehemaligen Schüler des Gymnasiums.
Fotos: Daniel Rahn
Schüler:innen des Technischen Berufskollegs Solingen haben ebenfalls in der Innenstadt rund um ihre Schule Stolpersteine wie die von Josef und Anna Kupperschlag an der Klemens-Horn-Straße 15 geputzt.
In diesem Jahr unterstützt die Bezirksvertretung Mitte die Aktion „Ein Licht für Stolpersteine“ und gleichzeitig die Schüler:innen, die im Bezirk Mitte die Putzpatenschaften für die Stolpersteine übernommen haben. Vergangene Woche wurden Putzmittel und Kerzen an sechs weiterführende Schulen und eine Grundschule verteilt, so dass erstmals alle Stolpersteine im Stadtteil gleichzeitig zum 9. November geputzt und abends mit Kerzen zum Gedenken versehen werden.
Natürlich sind wie jedes Jahr alle Solingerinnen und Solinger, auch in den anderen Stadtteilen, dazu aufgerufen, Kerzen an den Stolpersteinen aufzustellen und Fotos davon an info@stolpersteine-solingen.de zu schicken oder selber in sozialen Netzwerken mit dem Hashtag #stolpersteinesolingen zu posten, um das Gedenken weitläufig sichtbar zu machen.
Hinweisen möchten wir auch auf die Gedenkveranstaltung des Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage am 9. November 2021 um 13.30 Uhr an der Malteserstraße: Beiträge und Gebete an der ehemaligen Synagoge von und mit Oberbürgermeister Tim Kurzbach, Leonid Goldberg (Vorsitzender Jüdische Kultusgemeinde) und Chaim Kornblum (Rabbiner Jüdische Kultusgemeinde). Anschließend Mahngang mit dem Jugendstadtrat zur Stadtkirche Solingen. Dort findet sich eine Ausstellung von Abiturient:innen des Humboldtgymnasiums zur Biographie von Bella Tabak „Golden America – A memoir“. Vor Ort werden sich Dr. Ilka Werner (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen) und Vertretungen des Jugendstadtrates an die Anwesenden richten.
Um 17.30 Uhr werden Armin Schulte und Daniela Tobias in Ohligs in einem Stadtrundgang an die jüdischen Kaufleute erinnern, die an der Düsseldorfer Straße ihre Geschäfte hatten und in der Pogromnacht zum Ziel der Angriffe durch NS-Verbände wurden. Treffpunkt ist an der Düsseldorfer Straße 76. Der Rundgang ist Teil des Projekts „Stadtrundgänge zur jüdischen Geschichte Solings“ im Rahmen des Festjahrs #2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland.
Es war der 123. Stolperstein, der in Solingen verlegt wurde, aber der erste im Stadtteil Aufderhöhe: an der Höhscheider Straße 135 erinnert seit dem 12. Oktober 2021 ein Stein des Künstlers Gunter Demnig an den Widerstandskämpfer Paul Rux.
Stolperstein für Paul Rux neben einem Foto der Familie Rux, vl.: Paul, Günter, Ellen und Else Rux.
Bis kurz vor seinem Tod 1997 lebte Paul Rux in dem Haus, das früher einmal eine Werkswohnung des Unternehmens eines Verwandten am Landwehr war, wo auch er als gelernter Schlosser arbeitete. Im Alter von 22 Jahren wurde der Kommunist 1933 verhaftet und in das KZ Kemna in Wuppertal-Beyenburg verschleppt, wo er Gewaltexzesse des Wachpersonals erlebte. Lagerhaft und Zuchthaus folgten. Eine sehr belastende Zeit für seine Frau Else, die ab 1942 wieder ohne ihn zurecht kommen musste, da das Regime Paul Rux in das „Bewährungsbataillon 999“ einzog und an die Front schickte. Mit viel Glück überlebte er und geriet schließlich in Kriegsgefangenschaft.
Rote Jungfront, der Jugendverband des RFB, Abteilung Wald, 1927, Paul Rux: 4. v. l., Quelle: Thomas Schmidt
So lernte Ellen Müller ihren Vater Paul Rux erst als 4jährige kennen und empfand den fremden Mann zunächst als Eindringling. „Er hat es aber mit viel Geduld und Liebe geschafft, mein Herz zu gewinnen. Ich denke heute noch jeden Tag an meinen Papa“, beschreibt sie die innige Beziehung, die sich bald entwickelte. Enkel Michael Rux, dessen Vater Günter acht Jahre alt war, als Paul Rux zurück nach Solingen kam, weiß, dass es dem Großvater schwer fiel über das Erlebte in der Kemna zu sprechen. Paul und Else Rux sahen es dennoch als ihre Pflicht an, sich nach dem Krieg in der VVN-BdA für eine Verfolgung der NS-Verbrechen und eine Aufarbeitung einzusetzen.
Enkel Thomas Schmidt mit dem Stolperstein seines Großvaters, rechts: Michael Sandmöller vom Unterstützerkreis Stolpersteine für Solingen.
Enkel Thomas Schmidt betonte in seiner Ansprache, die er im Namen der Angehörigen hielt, dass die Rolle und der Einsatz der Frauen zu oft in Vergessenheit gerate. Else Rux war es, die sich ganz allein mit den beiden Kindern durchschlagen musste, wenn ihr Mann in Haft war, ohne staatliche Unterstützung, dafür aber von den Nachbarn als Kommunistin beschimpft und ausgegrenzt. Sie hielt dennoch zu ihrem Mann und versuchte ihren Kindern trotzdem eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen.
Nicht nur Familienangehörige sondern auch Mitglieder der Solinger Gruppe der VVN, des Unterstützerkreises Stolpersteine für Solingen und des Max-Leven-Zentrums Solingen waren zur Verlegung gekommen,
Marita Süßenbach, die Patin des Stolpersteins, hatte sich, nachdem sie den Stein zugeteilt bekommen hatte, eingehend mit der Biographie von Paul Rux befasst. „Auch wenn ich politisch anders verortet bin oder vielleicht gerade deswegen, ist es mir ein Anliegen, an Menschen wie Paul Rux zu erinnern, die sich mutig gegen das NS-Regime gestellt haben. Gerade heute ist es so wichtig, deutlich zu machen, dass wir zusammenstehen müssen gegen rechtes Gedankengut und für Demokratie und Toleranz.“
Ellen Müller (2.v.l.) mit Angehörigen und der Stolpersteinpatin Marita Süßenbach (rechts).